… der Tag ist nicht mehr fern, so sei nun lobgesungen, dem hellen Morgenstern.
Eigentlich wollte ich ja nix schreiben darüber, warum von mir seit Mitte September 09 kaum was hier zu lesen war. Doch ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 24.11.09 fordert mich heraus, doch was verlauten zu lassen. Die Menschen in meiner Umgebung wussten sowieso Bescheid, denn ich ging offen damit um. Also: zwei Monate ging’s mir richtig schlecht. Nach fast neun guten Jahren rutschte ich wieder ab in das finstere Tal einer Depression. Inzwischen bin ich auf der anderen Seite wieder rausgeklettert. So habe ich allen Grund, dem „hellen Morgenstern“ Loblieder zu singen. Viele haben mitgeholfen, dass ich wieder auf die Beine kam. Meine Familie, die mich getragen hat, Leute aus der Gemeinde und darüber hinaus, die für mich beteten, mein Arzt und Therapeut, ein gutes antidepressives Medikament … und durch alle/s zusammen der gute Vater im Himmel. Jetzt, da es mir wieder gut geht und besser als zuvor, lese ich in der SZ, dass Depression nicht nur Nachteile habe. Unter der Überschrift „Eine graue Bilanz, Trotz aller Fortschritte in der Therapie von Depressionen sind 20 Prozent der Patienten nicht zu heilen“ beendet Christian Weber seinen Artikel mit einem tröstlichen Schluss. Am Ende ist es gar ein Vorteil, nicht heilbar zu sein.
Denn es mehren sich die Hinweise, dass die Depression eben nicht nur eine moderne Volkskrankheit wie Übergewicht ist, bedingt durch Leistungsstress und Überforderung. Sie findet sich nämlich in allen Zeiten und Kulturen, sei es bei den Ache-Indianern in Paraguay oder den Kung-Buschleuten in Südafrika.
Das muss einen evolutionären Grund haben, behaupten Psychiater wie Paul Andrews und Anderson Thomson von der University of Virginia in einer Studie im Fachblatt Psychological Review (Bd.116, S.620, 2009). Darin argumentieren sie, dass die Beständigkeit der Depression daraufhin deute, dass die Krankheit auch gewisse Selektionsvorteile gebracht haben muss. Sie spekulieren, dass das für die Krankheit typische, andauernde Grübeln schon in prähistorischen Zeiten bei der Lösung komplexer sozialer Probleme hilfreich gewesen sein könnte.
Ob man aus solchen Einsichten dann gleich neue Therapieempfehlungen ableiten kann, wie Andrews und Thomson glauben, lässt sich diskutieren. Doch Studien wie ihre zeigen, dass die Depression vermutlich zur Grundausstattung der menschlichen Psyche gehört und wir uns noch länger mit ihr herumschlagen werden müssen, als Pharmaindustrie und Therapeutenkongresse es uns glauben machen wollen.
http://www.sueddeutsche.de/wissen/212/495537/text/
Ich hatte zwar länger schon aus meinen persönlichen Erfahrungen den Verdacht, dass wiederkehrende Depressionen auf eine mir nicht ganz verständliche Weise ein Teil von mir ist, ein Rhythmus, der zu meinem Leben gehört. Doch nun winkt mir und meinen Nachkommen gar ein Selektionsvorteil und besondere Fähigkeiten „bei der Lösung komplexer sozialer Probleme“. Geht am Ende mit der Schwermut auch ein besonderer Mut einher? Ob Mut und soziale Fähigkeiten sich auch unabhängig von der Depression vererben? Ich hoffe es.
30. November 2009 von Wolfgang