Sonntag, 13.6.2010, bin ich mit einer 15-köpfigen Gruppe aus einer Mennonitengemeinde am Hauptbahnhof verabredet. Auf täuferischen Spuren wollen sie in Augsburg unterwegs sein. Zuerst gibt es ein wenig Nieselregen, so dass ich als erste Station mit der Straßenbahn das Rathaus ansteuere. Dort gibt es Geschichte zum Anfassen – im Trockenen! Einige Objekte stellen Stationen aus der Stadtgeschichte dar und laden zum Betasten ein. In Blindenschrift und der Schrift für Sehende werden sie erläutert. Zu einer kurzen Besinnung verweilen wir nebenan im Gedenkraum für die dem Holocaust zum Opfer gefallenen Augsburger Juden. Alle bekannten Namen sind auf großen Glassplattenverzeichnet.
Als wir das Rathaus wieder verlassen, hat sich der Regen verzogen. Sonst hätte ich noch den Goldenen Saal besichtigen lassen. Vom Rathaus in der patrizischen Oberstadt steigen wir topografisch und sozial hinab in die Unterstadt der Handwerker. Dort erzähle ich u.a. vom Schillingaufstand am 3.8.1524. Als Antwort auf die Entlassung Johannes Schillings, des populären Predigers an der Barfüßerkirche, hatten sich Menschenmassen „zusammengerottet“ und vor dem Rathaus für dessen Rückkehr demonstriert. Schilling hatte sich in seinen Predigten wohl reformatorisch, aber auch sozial engagiert geäußert. Gerechtigkeit auch für die kleinen Leute – frohe Botschaft für die Armen – auch das ist Evangelium. Zu den Demonstranten finden sich einige, die später zur Täuferbewegung stoßen. Die Demos erreichen immerhin die Rückkehr Schillings. Dem Rat war wohl angst und bang geworden. Doch als sich der Zorn der Masse gelegt hatte, wurde Schilling erneut aus der Stadt gewiesen. Diesmal ohne Aufschrei.
Dann stehen wir vor dem Haus, wo sich am Ostermorgen 1528 etwa 100 Täufer versammelt hatten, die Auferstehung Christi zu feiern. Einige hatten schon bemerkt, dass in der Umgebung Stadtknechte versteckt waren. Die Vorsteher warnten die Versammlung und stellten es allen anheim, wieder zu gehen, was etliche auch taten. Die Versammlung wurde dann tatsächlich gesprengt. 88 Männer und Frauen verhaftet, darunter die Hausherrin und fast alle führenden Täufer Augsburgs.
Während ich darüber erzähle, kommt ein Mann und will wohl in einen Kleinbus einsteigen, den wir blockieren. „Sollen wir Ihnen Platz machen?“ „Nein ich höre gerne zu!“ Zum Ende der Station gibt er sich als der neue Hausbesitzer zu erkennen. Ich frage nach seiner Adresse. „Ja, hier wohne ich! In diesem historischen Haus!“ Er wusste schon etwas von der Bedeutung des Hauses für die Täufergeschichte. Ich gebe ihm meine Karte und wir verabschieden uns herzlich.
Als wir die nächste Station hinter uns haben, begegnet er uns auf dem Weg zum Brechthaus. Er ist uns nachgegangen. Er überreicht mir einen alten Eisennagel. „Für Sie. Wir haben ihn bei der Renovierung gefunden.“ Ob der Nagel aus dem 16. Jahrhundert stammt? Das müssen Fachleute entscheiden. Mir erscheint es zumindest möglich. – Auf jeden Fall gibt es wohl eine offene Tür zu diesem alten Täuferhaus. – Ich bedanke mich herzlich und kündige an, demnächst Kontakt aufzunehmen.
Wer weiß, womöglich ist der Nagel das erste Exponat, einer kommenden Ausstellung „(Wieder)Täufer in Augsburg“? Wer weiß, vielleicht gibt es bald ein sichtbares Erinnerungszeichen am Ort, der damals gesprengten Osterversammlung. Viele, auch die Hausherrin, wurden ausgewiesen, manche gebrandmarkt, der Vorsteher Hans Leupold hingerichtet. Als man ihm vor dem Rathaus das Urteil verlas und mitteilte, dass er mit dem Schwert vom Leben zum Tod gerichtet werde, rief er mit lauter Stimme: „Nicht also, ihr Herren von Augsburg, sondern aus dem Tod zum Leben.“ So geschehen in Augsburg am 25.4.1528.
15. Juni 2010 von Wolfgang