Dennoch, so versprach ich im letzten Blogbeitrag, wollte ich in mehreren Folgen den Nachweis liefern: Karl May war Kara ben Nemsi, war Old Shatterhand, war Mennonit. Eigentlich ist mir dieser Nachweis durch ein Zitat ja schon trefflich gelungen: Old Shatterhand schwört nicht. Bei ihm „pflegt das Wort zu gelten, grad so wie ein Schwur“. Viel mehr als die Eidesverweigerung war bei vielen deutschen Mennoniten des 19. und 20. Jahrhunderts nicht vom Glauben der Vorfahren übrig. Nicht so bei Karl May – er bewahrt auch andere täuferische „Eigenarten“. Dazu diesmal ein Textauszug zum Thema Feindesliebe:
„Was suchst du da?“ fragte er verwundert. „Das ist mein Arb’a beschajir, das stets in der Satteltasche steckte. Heute, als ich die Stelle von der Liebe zu den Feinden gelesen hatte, tat ich es aber in die Brusttasche der Jacke. Warum ich das tat, weiß ich nicht, es fiel mir gerade so ein.“
„Aber ich weiß es. Dein Schutzengel war es, der dir diesen Gedanken eingegeben hat. Das Buch hat dir das Leben gerettet.“
„Wie? – Das Leben gerettet?“
„Ja, steh auf und betrachte es! Du brauchst nicht liegen zu bleiben, denn du bist nicht verwundet. Der Schmerz, den du auf der Brust fühlst, ist alles, was der Schuß dir hinterlassen hat.“
Das gab nun eine allgemeine Verwunderung, Dschafar Mirsa hatte das ihm von mir geschenkte kleine Evangelienbuch in Metall binden und ein silbernes Lesezeichen dazu anfertigen lassen. Das Buch hatte verkehrt, ich meine, mit der Anfangsseite[1] dem Körper zu in der Tasche des Basch Näsir gesteckt und war von dem Geschoß auf die rückwärtige Platte des Einbands getroffen worden. Da die Platte dünn war, hatte sie der Kugel nicht genug Widerstand geleistet, sie war hindurchgeschlagen und auch so weit durch die Blätter gegangen, bis das Lesezeichen sie aufgehalten hatte. Dort steckte sie noch jetzt, nicht breitgeschlagen, sondern ein wenig abgeplattet. Der Schuß hatte keine große Kraft gehabt. Es war, wie sich dann herausstellte, eine Pistole alter Bauart, und wahrscheinlich hatte auch das Pulver nicht viel getaugt. So war der durch das Buch verminderte Prall nicht stark genug gewesen, eine Rippe zu verletzen. Schmerzhaft freilich war die Quetschung, der Perser litt längere Zeit daran.
Das Buch ging von einer Hand in die andre, denn ieder wollte es genau betrachten. Als das geschehen war, ließ ich es mir wieder geben und schlug die Seite auf, bei der das Zeichen gesteckt hatte. Welch eine Fügung! Die Kugel war fast durch das ganze Buch gedrungen, denn das Lesezeichen hatte ziemlich weit vorn, nämlich in der Bergpredigt, im fünften Kapitel des Matthäus, gesteckt, wo durch den verbogenen Rand des Zeichens ein kleiner Einschnitt entstanden war, der die letzte im Buch sichtbare Wirkung des Schusses bildete. Und wo befand sich diese Stelle? Ich hielt sie dem Perser hin und bat:
„Lies !“
„Es ist das gleiche, was ich heute früh gelesen habe: ‚Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, die euch verfolgen und verleumden, auf daß ihr Kinder eures Vaters seid, der im Himmel ist, der seine Sonne aufgehen läßt über die Guten und Bösen und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte!’ Hierher habe ich das Zeichen gelegt.“
„Und was siehst du hier, gerade neben diesen beiden Versen?“
„Ein kleines Loch, wahrscheinlich von dem verbogenen Zeichen.“
„Ja, aber für mich ist es mehr, und auch für dich muß es mehr sein.“
„Was?“
„Du hast mir gesagt, dir sei heute früh der Gedanke gekommen, daß wir viel zu gütig gegen unsre Feinde gewesen seien, um dieser deiner Schwachheit Kraft zu verleihen, habest du hier diese Stelle aufgeschlagen und gelesen. Und hier steht der Befehl: ,Liebet eure Feinde!’ Vorhin erzähltest du, der Engel wünsche, daß dein ganzes noch folgendes Leben so sei wie der letzte, hier vergangene Tag. Und hat er nicht auch ausdrücklich gesagt, daß es die Liebe sei, die dich beschützt hat?“
,,Ja, das war eines seiner Abschiedsworte.“
„Nun, der Drang nach dem Gebot der Feindesliebe gab dir dieses Buch in die Hand. Aus Gehorsam für dieses Gebot schlugst du diese Stelle auf und legtest das Zeichen hinein. Genau bis hierher ist die Kugel gedrungent. Hier an dem Wort der Liebe hat sie ihre Macht verloren. Ist das ein Zufall?“
„Allah, Allah! Nein, gewiß nicht!“
„Ich denke das auch. Und ietzt fallen mir meine Worte ein, die ich dir über das Evangelium sagte, kurz, ehe du erschossen werden solltest. Kannst du dich besinnen?“
„Nein.“
„Ich versichere dir, daß Gott, der von dir die Liebe zu den Feinden forderte, auch die Macht habe, dich durch diese Liebe zu retten. Ich sagte, sein Evangelium sei ein starker Schutz und Schirm selbst in der größten Todesgefahr, und vielleicht stehe dir die Hilfe näher, als du denkest.“
„Ja, das ist sonderbar, Effendi.“
„Nicht nur sonderbar. Ich sprach vom Schutz des Evangeliums, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß dieses Buch in deiner Brusttasche steckte. Und dazu kommt noch mehr. Besinne dich nur! Als du davon sprachst, daß du mich im Jenseits um Verzeihung bitten werdest, sagte ich dir, daß ich dir schon verziehen habe, und fügte hinzu, daß Gottes Hand dich noch im letzten Augenblick retten und die Kugel lenken könne.“
„Ich besinne mich. Ja, so sagtest du.“
„Entweder müssen wir uns für Propheten halten“, fuhr ich fort, „oder wir sind der Überzeugung, daß wir unter einer alliebenden und allweisen Führung stehen, die für uns das Unheil in Heil, das Unglück in GIück verwandelt. Da wir uns aber nicht anmaßen, mit der Gabe der Weissagung ausgerüstet zu sein, so ist für uns nur die zweite Annahme möglich.
Karl May, Am Jenseits, Karl May Verlag Bamberg, 1951, S. 279 f .
Mennonitengemeinde Heidelberg-Bammental, Nach Gemeindebrief 2/1992
[1] Bei allen Büchem in arabischer Schrift, die von rechts nach links – also entgegengesetzt unsrer Weise – gelesen wird, befindet sich der Anfang an der Stelle, die bei uns das Ende enthält. Man liest demnach von hinten nach vorne!
30. März 2012 von Wolfgang