MUT steht in überlebensgroßen Lettern auf einem Flachdach über dem Augsburger Rathausplatz.
Vorgestern abend höre ich im Zeughaus – dem ehemaligen Waffenlager der freien Reichsstadt – die Geschichte von André Shephard, dem mutigen Deserteur, der seinen Einsatz als US-Soldat in Irak verweigert, als ihm klar wird, an welchen Verbrechen er da mitwirkt. Spät am Abend erfahre ich erst durch einen Anruf von dem Attentat in München. Warum nicht schon, als wir mit drei vier Dutzend Friedensleuten beisammen waren? Hatten alle noch nichts davon gehört? Ich war sogar nach 21 Uhr am Bahnhof und wunderte mich, warum der ICE nach München im Gleis stand. Später wurde mir klar, warum er nicht weiterfuhr. Schließlich eine lange Nacht an PC und Fernsehen, statt des Medienfastens zuvor.
Samstag um 10 warte ich am Rathaus. MUT MÄRTYRER steht auf meinem Pappschild. Was soll das? fragt ein Mann mittleren Alters. Ja, sage ich, da hat sich gerade wieder einer selbst zum Märtyrer gemacht und viele andere mitgenommen in den Tod. Hier geht’s um andere Märtyrer. Sie wurden getötet, weil sie der Gewalt und dem Töten Widerstand leisteten. Ich folge in meiner Stadtführung dem Thema MUT durch die Jahrhunderte vom Märtyrertod der Stadtheiligen Afra im Jahr 304 über die aus Augsburg vertriebenen Geschwister der Täuferbewegung, bis zu den Männern und Frauen, die Hitler und den Nazis mutig widerstanden. – Wir kommen ins Gespräch. Er wohnt in Augsburg, ist bei der Polizei in München, hatte damit gerechnet, auch zum Einsatz gerufen zu werden. Gibt es keine Kundgebung wie bei Charlie Hebdo auf dem Königsplatz? Wir erkundigen uns im Rathaus Souvenirlädchen, bei der AZ, im Touristeninfo, dort schaut man im Internet. Nichts zu finden. Wir sind uns einig, der Terror lässt sich nicht mit materiellen Waffen besiegen. Klar muss der Staat mit seinem Gewaltmonopol dagegen halten, das eigentliche Schlachtfeld liegt aber auf der geistlichen Ebene. – Märtyrer, das sind in der kirchlichen Überlieferung die gewaltfreien Zeugen und Zeuginnen Christi. Jesus ging seinen Feinden in Liebe gewaltfrei entgegen. – Guten Tag noch, wünsche ich meinem Gesprächspartner, hoffentlich ohne unerwarteten Einsatz.
Ewas später komme ich am Gemeindehaus St. Anna vorbei. Ein vielstimmiger Blockflötenchor übt gerade. Ich summe mit: Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald. – Wie haben wir uns verlaufen, wenn schon die Kinder vom Flammentod im Ofen singen? Welche Bedrohung bedeutet die finstere Hexe im tiefen Wald und werden wir mit ihr fertig, wenn wir die Sache einfach umdrehen? Hexenprozesse sind auch ein Thema meiner Stadtführung.
MUT in überlebensgroßen Lettern über dem Rathausplatz. Mut – wir brauchen ihn zum Leben und Überleben.
24. Juli 2016 von Wolfgang