Nicholson Baker, Menschenrauch, Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete, Rowohlt, Reinbek 2009, 615 S., 24,90 €.
Ein Buch, was ich schon im amerikanischen Original lesen wollte. Jetzt kommt für mich überaschend schon die deutsche Übersetzung. Heute las ich die große Rezension in der Süddeutschen (SZ, S. 14, 3.3.09: Menschen mögen Krieg). Das Buch gibt den Alliierten, besonders Churchill, eine Mitschuld am 2. Weltkrieg und spricht gegen die allgemein als politisch korrekt geltende Überzeugung, man habe Hitler nur durch militärische Gewalt widerstehen können. Ich zitiere einige Sätze aus der Rezension, die auch andere zum Lesen dieses wichtigen Buches anregen mögen. Die ganze Rezension ist hier nachzulesen: http://www.sueddeutsche.de/kultur/671/460305/text/ Dort findet sich auch ein Interview mit dem Autor zum Erscheinen der englischsprachigen Ausgabe.
Einige Zitate aus der Rezension von Gustav Seibt:
„Mit mehr Wut ist schon lange kein Werk der Literatur mehr begrüßt worden. Ein Buch für die Feinde der Demokratie hat Daniel Kehlmann Nicholson Bakers historische Collage ‚Menschenrauch‘ genannt …
Jenseits aller Thesen macht Bakers Material eine Eskalation sichtbar, eine schier unaufhaltsame Drift, die schon lange vor Hitlers Aufstieg einsetzt und alle Gesellschaften der westlichen Zivilisation erfasst hat. Es ist eine Eskalation der Barbarei, die mit den anwachsenden Vernichtungsmöglichkeiten moderner Waffentechnik Schritt hält.
… ‚Ich spreche mich ausdrücklich für den Einsatz von Giftgas gegen unzivilisierte Völker aus‘. Solche Sätze – dieser wurde von Winston Churchill 1920 geschrieben – muss man aus den Verstecken ihrer Zusammenhänge reißen dürfen, wenn man verstehen will, was in Europa im 20. Jahrhundert geschehen ist. …
Bakers Erzählerbewusstsein beim Anordnen der Quellen ist das eines Erweckungspredigers: Steht auf und kehrt um, hier und sofort, denn es ist möglich; die Reihe der Zeit kann eine neue Richtung nehmen. Hier spricht, mit einem Wort, ein Pazifist. Baker, der sich in diesem Buch als Erzähler stets nur in wenigen Zeilen selbst zu Wort kommen lässt, lässt im Nachwort alle Indirektheit fahren und spricht es aus: Die Pazifisten waren die Einzigen, die recht hatten in dieser Steigerung des Grauens hin zum Verbrennen von Menschen. Pazifisten müssen, wenn sie konsequent sind, schier übermenschlichen Mut zeigen, denn ihre Waffe ist die Wehrlosigkeit. Mutig ist es, den Pazifismus gedanklich an dem Gegenstand zu erproben, der ihm den härtesten Widerstand bietet, dem Krieg gegen Hitler.
… Kaum etwas von dem, was Baker vorführt, ist unbekannt. Sein Material ist, wenn man von Zeugnissen des vor allem religiös geprägten amerikanischen Pazifismus absieht, das geläufige: Victor Klemperer, Mihail Sebastian, Harold Nicolson, Christopher Isherwood, Gandhi, Papst Pius XII., Roosevelt, Churchill, Hitler, Göring, Goebbels, Graf Ciano. Wer sich überhaupt mit dem 20. Jahrhundert beschäftigt hat, wird wenig Neues, schon gar kein obskures Geheimwissen entdecken, keinen Internetwust, sondern die Früchte einer gut sortierten, aber eher kleinen Bibliothek.“
Die Waffe der Wehrlosigkeit! Schade, dass der Rezensent nicht auch ein wenig auf das nicht geläufige Material des amerikanischen Pazifismus eingeht. Das werden andere nachzuholen haben. Ich bin gespannt, wie er diese nicht nur hierzulande weitgehend unbeachteten Zeugnisse einbaut.
5. März 2009 von Wolfgang